Sohn der Unterwelt

Welchen Preis bist du bereit, für deine Liebe zu zahlen?

Kryos ist der unerwünschte Sohn des Gottes der Unterwelt. Um seinem tristen Dasein im Hades zu entkommen, nimmt er einen ungewöhnlichen Auftrag an. Er soll den frevelhaften König von Akora zu Fall bringen und dazu in den Körper von dessen Sohn Yamin schlüpfen. Es gibt nur ein Problem: Prinz Yamin ist verlobt!
Kryos’ aufkeimende Gefühle für Prinzessin Io machen es nicht leichter, zu verbergen, wer er wirklich ist. Auch Io verwirrt das veränderte Auftreten des Prinzen mehr, als ihr lieb ist. Schließlich hat sie bislang nach einem Weg gesucht, ihrer politisch arrangierten Ehe mit Yamin zu entgehen.
Gemeinsam kommen Kryos und Io einer Intrige gegen den Göttervater Zeus auf die Spur, die sie beide in tödliche Gefahr bringt. Und schon bald muss Kryos sich entscheiden zwischen der Liebe einer Irdischen und einem Platz im Olymp.

 

Spannend. Romantisch. Magisch.
Eine Götter-Fantasy im antiken Griechenland

Sohn der Unterwelt

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Leseprobe – Der Sohn der Unterwelt

Kapitel 1

Lautlos glitt der alte Holzkahn über den Styx. Das Wasser des Flusses leuchtete in hellem Blau und war die einzige Lichtquelle in der gewaltigen unterirdischen Höhle. Vom Bug aus musterte Kryos die Wartenden am Ufer. Graue Leiber und Köpfe, nur schemenhaft vor den nachtschwarzen Felswänden erkennbar.
Charon manövrierte den verwitterten Kahn gegen die Kraft des Stromes zur Landungsstelle, die Augen einzig auf das Stakholz in seinen greisen Händen gerichtet.
Als das Boot sich näherte, wurde die Menge unruhig. Zu stark war die Sehnsucht der Toten, endlich die Fähre besteigen zu dürfen. Kaum setzte der Kahn auf, sprang Kryos auf das sandige Ufer. Eine der grauen Gestalten brach aus der Gruppe aus und stürzte auf das Boot zu, doch Kryos drängte sie zurück. Dann nahm er die Papyrusrolle aus dem Gürtel und öffnete sie. »Leonidas aus Piräus«, las er vor. »Savina aus Athen und Dimitrios aus Reklion.«
Die Gerufenen traten vor.
»Habt ihr die Münze für die Überfahrt?«, fragte Kryos.
Die drei Toten nickten, zeigten ihm den Obolus und stiegen zu Charon ins Boot. Der alte Fährmann ließ die Geldstücke in seinem Schifferkittel verschwinden und wies der Frau und den beiden Männern Plätze auf den schmalen Bankreihen zu. Währenddessen strömten durch den Höhleneingang Neuankömmlinge heran. Auch heute würden wieder viele Fahrten über den Styx nötig sein, um die Verstorbenen von der Welt der Lebenden in das Reich der Toten zu bringen. Kryos hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Moiren weniger fleißig Lebensfäden durchtrennen würden. Die meisten der Passagiere vermutlich ebenfalls nicht.
Nach einer Weile stakte Charon die erste Fuhre hinüber zum Tor der Unterwelt. Kryos blieb am Ufer zurück. Er ließ den Papyrus sinken und strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn. Gestern Abend war er endlich mit dem Bau von Charons neuem Boot fertig geworden. Ob er heute zu einer Probefahrt kommen würde? Charon fragte jeden Tag unfreundlicher nach dem neuen Kahn.
Nachdenklich schweifte Kryos’ Blick über den Styx. Wie gewöhnlich schimmerte der Strom lichtblau.
Wenn die Wasser des Styx sich purpurn färben, wird Zeus sein Versprechen an dich einlösen, hörte Kryos im Geiste die Stimme seines Vaters. Hoffentlich ließ dieser Tag nicht mehr allzu lange auf sich warten.
Charon kehrte mit dem leeren Kahn zurück und Kryos verlas die nächsten Namen. Dumpf hallten seine Worte von den Felswänden wider. Als Kryos das Ende der Liste erreicht hatte, fing er wieder von oben an. Sobald der Tote an Bord war, erlosch der jeweilige Schriftzug auf dem Papyrus und ein neuer Name trat an dessen Stelle.
Nach all den Jahren sah Kryos sich die an ihm vorbeiziehenden Toten kaum mehr an. Ein Blick auf die Münze, ein Nicken und der Nächste kam an die Reihe. Es gab nichts zu sagen. Niemanden, der hier vorbeilief, würde er je wiedersehen.
Abgesehen von dem buckligen Mann, der sich mit eingezogenem Kopf an ihm vorbeischlängelte. Kryos räusperte sich vernehmlich. »Das ist keine Münze, Xenokles.«
Der Angesprochene blieb stehen, legte den Kopf schief und betrachtete den dünnen, fast rund geschliffenen Flusskiesel zwischen seinen Fingern. »Wie hast du das gemerkt?«
»Weil du diesen Trick vor ein paar Monaten schon probiert hast.«
»Kannst du für mich keine Ausnahme machen? Wir kennen uns doch inzwischen. Charon wird der Unterschied nicht auffallen, er ist nicht halb so schlau wie du.«
»Und er versteht nicht annähernd so viel Spaß wie ich. Charon würde dich mit dem Stakholz in den Fluss stoßen und du kämst sofort in den Tartaros – ohne Anhörung vor dem Totengericht.« Er klopfte Xenokles auf die Schulter. »Es sind nur noch zehn Jahre für dich.«
»Das ist hier unten eine verdammt lange Zeit.«
Wem sagte er das? »Sobald es hier ruhiger wird, komme ich zu dir und du erzählst mir nochmal die Geschichte, wie du König Krösus’ goldenes Tischtuch gestohlen hast.«
»Was waren das für Zeiten! Meisterdieb nannte man mich allerorten!« Xenokles lächelte selig. »Damals hättest selbst du mich nicht aufhalten können.«
Stimmengewirr am Eingang der Höhle verhinderte Kryos’ Antwort. Dutzende von Männern in Kriegerrüstungen stürmten auf das Ufer zu.
Xenokles murmelte etwas und eilte davon. Kryos zog das Schwert aus seinem Gürtel. An ein geordnetes Vorlesen der Liste war nicht mehr zu denken. Schon hatten die Ersten ihn erreicht.
»Lass uns durch!«, rief einer der Soldaten. Ein hässlicher Schnitt am Hals zeigte, wie er zu Tode gekommen war. »Wir sind Krieger aus Gimar und haben uns den Eintritt ins Totenreich wohlverdient.«
»Zeigt die Münze und der Einstieg ins Boot ist euch gewährt.«
»Sind unsere ruhmreichen Taten nicht Bezahlung genug?« Abfällig musterte der Soldat Kryos’ abgetragenen Schurz aus schwarzem Schafsfell. »Bis zum Schluss haben wir mutig gegen König Dorimedons Truppen gekämpft.«
Dorimedons erwachter Machthunger kostete derzeit viele das Leben. »Ich erkenne eure Tapferkeit an, doch du und deine Männer werdet erst in hundert Jahren den Fluss überqueren.« Kryos wies in eine Grotte am Ende der Höhle. Männer und Frauen saßen dort in Gruppen auf dem Boden, andere liefen ziellos umher. »Gesellt euch zu ihnen.«
Der Blick des Kriegers verfinsterte sich. »Ich warte nicht.«
»Und ich verhandele nicht.«
Der Soldat wandte sich ab – nur, um im nächsten Augenblick herumzufahren und sich auf Kryos zu stürzen.
Er war nicht der Erste, der es so versuchte. Kryos wehrte den Angriff mit einem Schwerthieb ab. Der Mann taumelte zurück in die Runde seiner Kameraden, doch kaum hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden, reckte er die Fäuste.
»Ich bin tot, was habe ich zu befürchten?«
Keiner, der die Qualen im Tartaros gesehen hatte, hätte diese Frage gestellt. Aber Worte würden den Soldaten nicht überzeugen. Kryos steckte sein Schwert zurück in den Gürtel und hob ebenfalls die Fäuste.
»Wenn du verlierst, fügst du dich meinen Anweisungen.«
Ein knappes Nicken, dann stürmte der Krieger auf ihn zu. Er war ein guter Kämpfer, schnell und stark. Doch Kryos war schneller und stärker. Er rang den Mann zu Boden, setzte sich auf dessen Brust und drückte die Hände des Kriegers auf den Ufersand.
Bevor der Soldat seine Niederlage eingestehen konnte, wallte plötzlich Nebel auf. Aus den weißen Schleiern trat Hades. Dank seines schwarzen Haares und Bartes, des nachtfarbenen Gewands und der dunklen Augen war sein Aussehen ebenso finster wie das Reich, über das er herrschte.
»Was geht hier vor sich, Kryos?«, rief er.
Kryos sprang auf die Füße, während ringsum alle Verstorbenen vor dem Gott der Unterwelt auf die Knie fielen.
»Ich hindere diesen Krieger daran, in Charons Kahn zu steigen.«
»Indem du dich mit ihm prügelst? Du hast andere Möglichkeiten.« Hades wies auf das Schwert an Kryos’ Gürtel. »Ich habe es nur für dich in den Feuern des Tartaros schmieden lassen.«
Und genau dahin würde die Waffe jeden befördern, den sie traf – ob verdient oder nicht. »Ich habe meine eigenen Methoden.«
»Die hier am Ufer das Chaos regieren lassen! Man hat mir zugetragen, dass die Toten ohne Obolus deinetwegen immer aufsässiger werden. Und statt dich um den Bau von Charons neuem Kahn zu kümmern, vertrödelst du deine Zeit mit sinnlosem Geplauder. Ich erwarte mehr von meinem Sohn. Aber offensichtlich wiegt das Erbe deiner Mutter zu schwer.«
Längst hatten alle Toten um sie herum die Köpfe wieder gehoben und lauschten dem Gespräch.
»Ich habe alles im Griff, Vater.«
»Dann beweise es mir. Ich dulde keinen Frevel – von niemandem.« Sein Vater hob die Hand und unter dem besiegten Krieger öffnete sich der Boden. Schreiend stürzte der Mann in die Tiefen des Tartaros. »So wird es gemacht, Sohn. Und nicht anders.«
Erneut wallte Nebel auf, in den sein Vater eintrat und verschwand.
Hinter sich hörte Kryos Charon hämisch kichern.
»Welch bedauerlicher Zufall, dass Hades ausgerechnet in diesem Moment kommen musste.«
Kryos erwiderte nichts. Nie war etwas, das er tat, gut genug. Wenn Zeus nur endlich sein Versprechen erfüllen und ihn als Gott in den Olymp aufnehmen würde, dann könnte Hades voll Stolz auf seinen Sohn blicken.
Aber weiterhin funkelte das Wasser des Styx in hellem Blau.
Nach dem Verschwinden ihres Kameraden zogen sich die übrigen Soldaten widerstandslos zurück und das weitere Einsteigen in den Kahn verlief so zügig wie selten und so langweilig wie nie.
Jetzt müsste Vater vorbeischauen, dachte Kryos zynisch – nur, um seine Meinung sofort zu ändern. Ein kleines Mädchen stand vor ihm, kaum fünf Sommer alt. Tränen liefen über seine grauen Wangen und die Händchen krallten sich in einen löchrigen Kittel. Sie schluchzte so sehr, dass Kryos sie kaum verstand.
»Ich habe keine Münze, Herr.«
Säuglinge gelangten sofort ins Elysion, doch sobald ein Kind allein laufen konnte, galten dieselben Regeln wie für Erwachsene. Furchtsam schaute die Kleine ihn an. Nichts wäre leichter gewesen, als den Erwartungen seines Vaters zu folgen und sie in die Grotte zu verweisen. Das Mädchen hätte keinen Widerstand gewagt, niemand der Umstehenden Partei für es ergriffen.
Kryos griff in den kleinen Beutel an seinem Gürtel und kniete sich vor das Kind. »Ich glaube, du hast deine Münze nur verloren.« Er fuhr mit den Fingern durch den Sand und hielt dem Mädchen einen glänzenden Obolus hin. »Das muss deiner sein.«
Das Mädchen starrte ihn ungläubig an. Dann nahm es das Geldstück, lächelte schüchtern und lief zur Fähre.
Charon ließ das Kind einsteigen, doch sein Gesicht verzog sich höhnisch. »Was Hades wohl dazu sagen würde?«
Sollte der alte Fährmann ihn ruhig erneut an Vater verraten. Tiefer konnte er in Hades’ Ansehen heute sowieso nicht mehr sinken.

Bei der letzten Passage am Abend stieg Kryos mit ins Boot. Vor dem Eingang ins Totenreich wartete er, bis Charon den Kahn an einem Pflock vertäut und mit den Verstorbenen das Portal durchschritten hatte. Dann lief Kryos zu Zerberus. Der dreiköpfige Hund wedelte freudig mit dem Schwanz und schleckte ihm mit seinen rauen Zungen über Gesicht, Ohren und Schultern. Kryos kraulte das zottlige, schwarze Fell, bis Zerberus ein Stück zurückwich und ihm so zeigte, dass es genug der Liebkosungen war. Das riesige Tier sah Kryos nun aus seinen sechs Augen auffordernd an.
Kryos holte hinter zwei Felsen einen Ast hervor und schleuderte ihn übers Ufer. Der monströse Hund stob davon. Nach einem Gerangel mit sich selbst, welchem der Köpfe die Ehre zustand, Kryos die Beute zu bringen, trabte Zerberus zurück und ließ den Ast vor ihm fallen.
Lobend tätschelte Kryos den mittleren Kopf des Hundes und warf den Ast erneut. Dieses Spiel würde sich eine Weile hinziehen, doch er hatte es nicht eilig. Persephone weilte seit ein paar Tagen wieder in der Unterwelt. Die Gemahlin seines Vaters hatte Kryos einmal mehr seine Gemächer in Hades’ Palast räumen lassen und er hatte zurück zu seiner Mutter und seiner Tante Stheno ziehen müssen.
Nach einigen weiteren Runden hatte Zerberus vom Stöckchenwerfen genug. Er setzte sich neben das Portal und gähnte. In seinen drei Mäulern blitzten riesige Zähne auf. Zerberus hatte zu verhindern, dass Tote aus dem Hades entkamen oder Lebende dort eindrangen. Bei dieser Aufgabe hatte das Tier bisher nur selten versagt. Kryos konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals ein Wort über Zerberus’ Scheitern verloren hatte.
Aber Zerberus war auch nicht sein unehelicher Sohn.
Kryos tätschelte den Hund ein letztes Mal, dann passierte er das Portal, schloss die Torflügel und machte sich auf den Weg zur Wohnung seiner Mutter und Tante. Vorbei am Totengericht und dem hell erleuchteten Palast seines Vaters und weiter durch niedere, von Fackeln erhellte Gänge zu den Wohnstätten der in der Unterwelt beheimateten Götter und Kreaturen.
Vor den Räumlichkeiten seiner Mutter und ihrer Schwester verharrte Kryos einen Moment. Wenn er Glück hatte, war seine Tante zu Besuch in der Welt der Menschen.
Sein Wunsch erfüllte sich nicht. Stheno öffnete ihm und sogleich verzog sich ihr altersloses Gesicht zu einer Schnute.
»Dein Sohn stinkt nach Hund, Euryale.«
»Beschwer dich bei seinem Vater«, drang die Stimme seiner Mutter aus dem Inneren der Wohnung. »Er hat das haarige, sabbernde Vieh vor die Tore des Totenreichs gesetzt. Meiner Meinung nach hätte die Hydra diese Aufgabe übernehmen können.«
Seine Mutter war eine ebenso elegante Erscheinung wie ihre Schwester – eine hochgewachsene Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen. In gewisser Hinsicht konnte Kryos verstehen, dass Hades während der monatelangen Abwesenheit seiner Gemahlin Persephone schwach geworden war.
Heute trug Euryale ein in akkurate Falten gelegtes dunkelblaues Gewand. Ein roter Seidenschal wickelte sich in sanften Schlingen um ihr Haupt. Die Schlangen, die ihr anstelle von Haar auf dem Kopf wuchsen, konnte der Stoff dennoch nicht verbergen.
Euryale hielt Kryos ihre Wange hin. Pflichtschuldig hauchte er einen Kuss darauf, während die zischelnden Schlangenköpfe nach ihm schnappten. Doch als Sohn einer Gorgone war er gegen die Bisse ebenso gefeit wie vor dem unheilvollen Blick seiner Mutter und Tante.
»Ich habe gehört, dass dein Vater dich heute am Styx besucht hat«, sagte seine Mutter. »Hat er sich endlich gegen seine hochmütige Ehefrau durchgesetzt und lässt dich wieder in den Palast einziehen? So, wie es dir als seinem einzigen Kind zusteht?«
»Nein. Und woher weißt du das schon wieder?«
»Von einer der Harpyien.« Seine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Ein Wort von dir und ich marschiere zu diesem rothaarigen Gänschen und sage ihr, dass sie dich nicht immer wieder hinauswerfen kann! Du weißt, wie überzeugend ich bin.«
»Es ist in Ordnung so, Mutter. Reg dich nicht auf.«
Wenn es nach ihm ginge, würde er bald ganz woanders wohnen.
»Wie du meinst. Meine Vorschläge scheinen ja sowieso niemanden zu interessieren.«
Bevor er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hämmerte es an die Tür.
»Kryos, bist du da?«, rief eine jugendliche männliche Stimme.
Stheno zog die akkurat gezupften Brauen hoch. »Sieh an, der Gott des Schlafes gibt sich die Ehre. Tritt ein, Hypnos.«
»Sicher nicht! Dein letzter Anblick hat mir zwei Tage Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen eingebracht.«
Seine Tante zuckte mit den Schultern. »Sei froh, dass du kein Mensch bist, sonst könntest du dich jetzt nicht einmal mehr beschweren.«
Eilig verließ Kryos die Wohnung, schloss sorgsam die Tür und schaute sich im leeren Gang um. »Hypnos?«
Sein Freund trat aus einer Nische im Felsen hervor. Er hatte seine Lieblingserscheinung gewählt: einen mit Schlafmohnblüten bekränzten, blondgelockten Jüngling mit Schmetterlingsflügeln an den Schultern.
»Etwas stimmt nicht mit dem Styx«, sagte Hypnos anstelle einer Begrüßung. »Ker hat es entdeckt und gibt gerade Hades und Charon Bescheid.«
»Wie, etwas stimmt nicht? Was meinst du?«
»Das Wasser leuchtet nicht mehr blau. Ich dachte, dich interessiert das.«
»Und ob!« Kryos rannte los. Hinter sich vernahm er das Flattern von Flügeln, die sich öffnende Wohnungstür und die empörte Stimme seiner Mutter, was denn geschehen wäre.
Schon lange vor dem offenstehenden Portal hörte Kryos Zerberus’ ununterbrochenes Bellen. Atemlos kam er am Ufer an und Hypnos landete mit sanftem Schwung hinter ihm. Hades und Charon waren bereits dort und blickten auf den Fluss.
Das Wasser des Styx war purpurfarben und tauchte die Grotte in violettes Licht.
Zeus’ Zeichen. Endlich.
»Es ist so weit, Vater«, schrie Kryos gegen Zerberus’ Lärm an. »Zeus ist bereit, sein Versprechen einzulösen.« Ein aufregendes Leben im Olymp, umgeben von zahlreichen neuen Freunden, war zum Greifen nah!
Sein Vater gab ihm keine Antwort. Ungläubig starrte er auf das verfärbte Wasser.
Unter Zerberus’ fortdauerndem Gebell traten Persephone und ihre Freundin Hekate aus dem Portal. Leichtfüßig eilte die mädchenhafte Herrscherin der Unterwelt zu ihnen, ihr rotes Haar schwang offen über ihren Rücken. Die wesentlich ältere Göttin der Magie folgte ihr mit steifen Schritten.
»Hades, was ist geschehen?«, rief Persephone über das Kläffen hinweg ihrem Gemahl zu.
Die silberhelle Stimme seiner Frau schien Hades aus seiner Starre zu lösen. »Bringt endlich jemand diesen Köter zum Schweigen!«, befahl er und lächelte Persephone entschuldigend an.
Bevor Kryos den dreiköpfigen Hund beruhigen konnte, hob Hypnos die rechte Hand und bewegte sie kreisförmig in Richtung Zerberus. Der Hund gähnte mit allen drei Mäulern gleichzeitig, legte sich auf seinen Platz neben dem Portal und schloss die Augen.
Hekate beugte sich zu dem purpurfarbenen Wasser hinab. »Etwas Derartiges ist nie zuvor geschehen«, sagte sie besorgt.
Charon nickte. »Was mag es bedeuten?«
»Ich habe jedenfalls keine Erklärung«, sagte Hades.
»Aber natürlich haben wir die!«, rief Kryos. Wie konnte sein Vater das vergessen haben? »Zeus hat das Wasser gefärbt, um mir zu zeigen, dass er jetzt sein Versprechen an mich einlösen will.«
Persephone fuhr zu ihm herum. »Welches Versprechen?«
Auch Charon, Hekate und Hypnos sahen ihn neugierig an.
Zeus hatte Kryos dieses Versprechen einst durch Hades mitteilen lassen – ebenso wie die Bitte, alles bis zum Tag der Erfüllung geheim zu halten. Doch jetzt konnte er wohl offen reden. »Zeus wird mich zum Gott erheben und in den Olymp aufnehmen.«
»Dich? Den Sohn einer Gorgone?« Persephone lachte. »Das ist absurd. Von einem solchen Versprechen hätte ich gehört.«
»Auch du weißt nicht alles. Schon vor Jahren hat Hades Zeus gesagt, dass ich ein olympischer Gott werden möchte. Damals haben sie diese Vereinbarung getroffen. – Erzähl es ihr, Vater.«
Unbehaglich schaute Hades zwischen ihm und seiner Gemahlin hin und her. »Wir sollten nichts überstürzen.«
Das konnte nur ein Scherz sein. »Aber Zeus wartet auf mich!«
»Ist es wirklich noch dein Wunsch, ein Gott zu werden?«, fragte sein Vater. »Du weißt, ich brauche dringend einen weiteren Aufseher im Tartaros. Ich würde dir dort einen Palast bauen lassen. Du wärst Herr in deinem eigenen Reich statt einer unter vielen im Götterhimmel.«
»Ich will in den Olymp, nicht als Kerkermeister in deine Folterkammer.«
Persephones Schmollmund verzog sich zu einem süßlichen Lächeln. »Aber dort würdest du viel besser hinpassen.«
Charon lachte laut. Hypnos sah den Alten tadelnd an und legte Kryos beruhigend die Hand auf die Schulter.
Wenigstens sein Freund stand auf seiner Seite! »Für mich gibt es nichts mehr zu überlegen, Vater«, sagte Kryos. »Hol deine Quadriga und bring mich zu Zeus.«
»Mein Bruder wird nicht erfreut sein, wenn wir ihn so spät noch stören. Besser, wir warten bis morgen früh.«
Bevor Kryos etwas erwidern konnte, rief Hekate nach ihnen. Die Göttin war ein Stück flussaufwärts am Styx entlanggelaufen.
»Das Wasser wird wieder hellblau«, sagte sie. »Und ich kenne den Grund für die Verfärbung.« Hekate zeigte auf die Felsöffnung, wo der Fluss in die riesige Höhle hineinströmte. Zwischen den dort aus dem Wasser aufragenden Klippen hingen die Überreste zerschellter Holzfässer.
Erleichtert lachte sein Vater auf. »Sieh einer an! In den Fässern muss Purpur gewesen sein. Vielleicht hat ein Händler sie draußen vom Karren verloren. Es war kein Zeichen von Zeus, sondern nichts als ein Zufall. Wir können alle wieder zurückgehen.«
Kryos schüttelte den Kopf. »Es ist egal, ob Zufall oder nicht! Zeus’ Worte haben sich erfüllt und er erwartet mich.«
»Sei nicht dumm! Hätte mein Bruder vor, dich zum Gott zu berufen, hätte er mir das mitgeteilt.«
Sein Vater setzte sich in Richtung Portal in Bewegung, doch Kryos schnitt ihm den Weg ab. »Möglicherweise sagt der Göttervater dir nicht alles.«
Die Miene seines Vaters verdüsterte sich. »Du wagst es, dich mir entgegenzustellen?!«
»Ich will zu Zeus.«
»Den Weg können wir uns sparen. Du hast es dir noch nicht verdient, ein Olympier zu sein! All diese Tricksereien mit den Münzen und die Prügeleien. Dein Benehmen gleicht dem eines Barbaren, nicht dem eines Gottes.«
»Zeus scheint es nicht zu stören«, rief Kryos. »Sonst hätte er das Wasser nicht …«
»Es reicht! Ich will nichts mehr davon hören.«
»Du kannst mich nicht behandeln wie ein kleines Kind!«
Statt einer Erwiderung hob sein Vater die Hand. Ein eisiger Wind ergriff Kryos wie eine Faust und schleuderte ihn zu Boden. Ohne ein weiteres Wort ging sein Vater auf das Portal zu.
Hypnos wollte zu Kryos laufen, doch mit einer Geste befahl Hades dem Gott des Schlafes, ihm und den anderen zu folgen.
Einzig Persephone blieb bei Kryos zurück. »Jemand wie du wird niemals in den Olymp aufgenommen«, flötete sie.
»Warum nicht?«, fragte Kryos und setzte sich auf. »Mein Vater ist der Herrscher der Unterwelt.«
»Aber deine Mutter ist ein Monster. Das macht dich zu einem Halbmonster. Und du weißt ja, wie es diesen Kreaturen ergeht. Am Ende kommt ein Held und schlägt ihnen mit einem Schwert den hässlichen Kopf ab.«
Kryos sprang auf. Doch er kam nicht weit. Persephone vollführte eine elegante kleine Handbewegung. Wind wirbelte den Ufersand auf und die winzigen Körnchen flogen Kryos in Augen, Nase und Mund.
»Wann wirst du endlich begreifen, wer du bist und was dir zusteht?« Sie drehte sich um und lief mit wiegendem Schritt zum Portal.
Hustend und mit tränenden Augen stolperte Kryos zum Fluss und wusch sich den Sand aus dem Gesicht. Dann nahm er einen Stein vom Ufer und schleuderte ihn in den Styx.

Die Sage von Hades und Persephone

Der Legende nach verliebte sich Hades, der Herrscher der Unterwelt, in Persephone – die Tochter des Göttervaters Zeus und der Demeter, Göttin der Fruchtbarkeit der Erde.
Da die lebensfrohe Persephone wohl nie freiwillig in seinem düsteren Totenreich würde leben wollen, beschloss Hades, sie zu entführen. Als Persephone auf einer Wiese Blumen pflückte, kam er in seiner schwarzen Quadriga herauf und brachte sie ins Reich der Toten.
Aus Trauer über den Verlust ihrer Tochter ließ Demeter alle Pflanzen auf Erden verdorren. Um die Menschen vor einer Hungersnot zu bewahren, versprach Zeus, Persephone aus Hades’ Reich zurückzuholen. Aber Persephone hatte Granatapfelkerne aus den Gärten der Unterwelt gegessen und war dadurch auf ewig an diesen Ort gebunden. Doch die Geschichte fand für alle Beteiligten ein gutes Ende. Persephone lebte fortan im Frühling und Sommer bei ihrer Mutter Demeter, den dunklen Teil des Jahres verbrachte sie im Totenreich bei Hades. Hades ernannte sie zur Herrscherin der Unterwelt und Persephone wurde ihm eine liebende Gattin. Eifersüchtig verfolgte sie die Wege ihres Gemahls und verwandelte sogar eine von Hades’ Geliebten aus Rache in einen Minzstrauch. Manche Überlieferungen berichten, dass Persephone und Hades später eine Tochter bekamen.
Dass aus einem von Hades’ Seitensprüngen ein Sohn hervorging, darüber schweigt die Legende.

Ich werde euch seine Geschichte erzählen.

 

Romanreise zu "Sohn der Unterwelt"

Lass dich verzaubern, die Romanreise beginnt! An dieser Stelle findest du die schönsten Stellen der Geschichte um den Halbgott Kryos und Prinzessin Io. Neben privaten Aufnahmen stammen die Fotos aus dem Stadtschloss in Fulda und meiner Recherche im Britischen Museum in London. Komm mit in die Straßen Akoras, den königlichen Palast und die düstere Unterwelt der griechischen Antike!

Als das Boot sich näherte, wurde die Menge unruhig. Zu stark war die Sehnsucht der Toten, endlich die Fähre besteigen zu dürfen. Kaum setzte der Kahn auf, sprang Kryos auf das sandige Ufer. Eine der grauen Gestalten brach aus der Gruppe aus und stürzte auf das Boot zu, doch Kryos drängte sie zurück. Dann nahm er die Papyrusrolle aus dem Gürtel und öffnete sie.
»Leonidas aus Piräus«, las er vor. »Savina aus Athen und Dimitrios aus Reklion.«
Die Gerufenen traten vor.
»Habt ihr die Münze für die Überfahrt?«, fragte Kryos.
Die drei Toten nickten, zeigten ihm den Obolus und stiegen zu Charon ins Boot.

Ein Obolus ist eine Silbermünze, mit der man im antiken Griechenland bezahlte. Den damaligen Glaubensvorstellungen gemäß legte man Verstorbenen einen Obolus in den Mund, damit der Tote den Fährmann Charon für die Passage über den Fluss Styx bezahlen und so ins Totenreich gelangen konnte. Noch heute begegnet man dem Wort Obolus in der Redewendung »seinen Obolus leisten« – also einen (meist finanziellen) Beitrag in einer Angelegenheit beisteuern.

Durch den Höhleneingang strömten weitere Neuankömmlinge heran. Auch heute würden wieder viele Fahrten über den Styx nötig sein, um die Verstorbenen von der Welt der Lebenden in das Reich der Toten zu bringen. Kryos hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Moiren weniger fleißig Lebensfäden durchtrennen würden. Die meisten der Passagiere vermutlich ebenfalls nicht.

Als Moiren werden in der griechischen Mythologie die drei Schicksalsgöttinnen bezeichnet. Die erste spinnt den menschlichen Lebensfaden, die zweite wickelt ihn ab und die dritte schneidet ihn durch.

 

Als Kryos den belebten Marktplatz erreichte, ging die Abenddämmerung in die Nacht über. Trotzdem war es nicht schwer, den Zeustempel auf dem Platz ausfindig zu machen. Es war der größte und pompöseste aller Bauten, vier Säulen in Form von Frauenskulpturen schmückten die Front. Kryos trat hinter eine der Steinfiguren und schaute sich um. In der Unterwelt musste man sein Verschwinden längst bemerkt haben. Im besten Fall schickte sein Vater Hypnos aus, um ihn zu suchen und zurückzubringen. Im schlechtesten Fall eine der Kreaturen der Unterwelt. Kryos stellte sich lieber nicht vor, was jede Einzelne von ihnen hier oben anrichten konnte, seine Mutter eingeschlossen.

Delia kehrte mit einem üppig beladenen Servierbrett zurück: Tintenfisch und Garnelen befanden sich darauf, dazu Fleisch von Wachteln und Hirsch sowie eine aromatisch duftende Soße mit allerlei Kräutern, und zu guter Letzt frisch gebackenes Brot.
»Während du isst, tanze ich für dich.«
Kryos konnte nicht sagen, was köstlicher war. Die Speisen vor ihm oder Delias wohlgerundeter Körper. Auf reizvollste Art und Weise bewegte sie sich vor ihm auf und ab, streckte und bog sich einer verführerischen Nymphe gleich. Im Olymp konnte es nicht schöner sein.
Kaum hatte er sein Mahl beendet, kam Delia mit vom Tanz geröteten Wangen zu ihm. »Willst du noch etwas essen? Einen Nachtisch vielleicht?«
Kryos schüttelte den Kopf. Dieser Hunger war fürs Erste gestillt. Dafür war ein anderer in ihm erwacht.

Amun geleitete Io durch das nüchtern ausgestattete Empfangszimmer und den Ankleideraum zu Yamins Schlafgemach. Der Prinz lag auf seiner Bettstatt, bis zur Brust zugedeckt mit einem leichten Laken. Er war wach und sein Blick wanderte in dem schmucklosen Raum umher.
»Ich bin erleichtert, dass du wieder zu dir gekommen bist«, sagte Io und trat an Yamins Lager. Auch er durfte weiterhin keinen Verdacht schöpfen. »Wie geht es dir?«
Erst jetzt drehte der Prinz den Kopf zu ihr. Er musterte sie kurz, dann nickte er. »Ich fühle mich gut. Der Heiler hat mir jedoch für den heutigen Tag Bettruhe verordnet.«
»Kann ich etwas für deine Unterhaltung tun?«, fragte Io, wie es sich für eine zukünftige, pflichtbewusste Ehefrau gehörte. »Eine Partie Pentalpha oder dir vorlesen?«

Die Ursprünge des Brettspiels Pentalpha liegen im Dunklen, es soll aber schon vor über 3000 Jahren auf der Insel Kreta gespielt worden sein. Das Spielfeld besteht aus einem fünfzackigen Stern, bei dem sich aus den Spitzen und überkreuzenden Linien insgesamt zehn Setzpunkte ergeben. Der Spieler muss versuchen, neun dieser zehn Punkte mit seinen Spielsteinen zu besetzen, wobei bestimmte Regeln für die Züge zu beachten sind.

Eine Tür öffnete sich und rechteckiger Lichtschein fiel in den Gang. In seiner Mitte zeichnete sich ein menschlicher Schatten ab. Die Silhouette einer schlanken Frau mit wirrem Haar auf dem Kopf. Nur, dass es kein Haar war. Das Zischen der Schlangen war deutlich zu hören.
Io kniff die Augen zu und presste sich gegen den kalten Felsen. Eine Gorgone!

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