Der Countdown läuft, nur noch wenige Tage bis zum Erscheinen meines neuen Romans. Zum Verkürzen der Wartezeit hier der Anfang des ersten Kapitels:
Es war das erste Mal, dass sie wieder einen Zentauren sah. Das erste Mal seit dem Tag, an dem ihr Bruder getötet worden war.
Von der Aufregung mitgerissen folgte Sirja den anderen in den Innenhof der Feste. Das Triumphgeschrei der Krieger hallte von den Steinmauern wider und vermischte sich mit den Rufen der Burgbewohner. Mägde und Knechte, Kinder und Alte hatten sich versammelt, bildeten einen Ring, schrien, spuckten und streckten ihre Fäuste gen Himmel. Ihre Körper verdeckten Sirja die Sicht auf das, was sich in ihrer Mitte befand – eine Kreatur, deren Volk den Mord an ihrem Bruder Artor begangen hatte.
Sie blieb stehen. Trauer und Wut nahmen ihr fast den Atem. Was tat sie hier draußen? Es war eine Genugtuung, dass die Krieger einen dieser Bastarde hatten gefangen nehmen können, aber ein Trost war es nicht. Und den Triumph, den Schmerz über den Tod ihres geliebten Bruders in ihren Augen abzulesen, wollte sie dem Pferdemenschen keinesfalls gönnen. Sie kehrte der Menge den Rücken, lief zurück zum Herrschaftsgebäude und stieg die Freitreppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Mit einem Mal erstarben alle Stimmen und Stille senkte sich über den Hof, nur ein einzelnes Paar Schritte war zu hören. Gebieterisch, zielstrebig. Die Schritte ihres Vaters, dem Turmherrn der Südfeste.
Gegen ihren Willen hielt Sirja auf den Stufen inne und drehte sich um. Die Burgbewohner traten beiseite und gaben den Weg für ihren Herrn frei. Ihr Vater schritt dem Zentauren entgegen und fixierte seinen Gefangenen. Auch Sirjas Blick richtete sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen auf die regungslos verharrende Gestalt zwischen all den Menschen.
Das Fell des Zentauren glänzte in tiefem Dunkelbraun. Sein bloßer, muskulöser Oberkörper überragte alle umstehenden Männer. Der Wind spielte mit seinem langen, dunklen Haar, und gab die Sicht auf spitz zulaufende Ohren frei. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, kaum älter als sie selbst.
Sirja musterte den Zentauren weiter. Die scharf geschnittenen Gesichtszüge des Pferdemenschen wirkten wie aus Stein gemeißelt, seine Miene gab nichts von seinen Gedanken preis. Einzig ein Zucken an der Flanke und seine zu Fäusten geballten Hände verrieten seine Anspannung.
Den Festenbewohnern hingegen war die Feindseligkeit deutlich anzumerken. Die Krieger ihres Vaters würden keinen Moment zögern, die Schlingen um den Hals des Zentauren zuzuziehen – und Sirja hätte nichts dagegen. Sie standen am Vorabend eines Krieges gegen die Pferdemenschen, und die Ermordung ihres Bruders war einer der Gründe dafür.
Sirja spürte, wie eine eisige Kälte an ihr hochkroch. Sie war es gewesen, die vor einem Mond den tödlichen Überfall auf ihren Bruder und seine Eskorte im Wald von Eleazan entdeckt hatte. Die Bilder hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt: blutige Schwerter auf dem Waldboden, von Pfeilen durchbohrte Krieger, die mächtigen Leiber toter Zentauren und mitten unter ihnen Artor. Hasserfüllt starrte sie zu der Kreatur im Hof hinunter.
In diesem Moment hob der Zentaur den Kopf und sah sie an.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte diesen Pferdemenschen noch nie in ihrem Leben gesehen, doch in solche Augen hatte sie schon einmal geblickt – dunkelgrün und unergründlich wie der Wald. Sie hatte neben ihrem toten Bruder gekniet und ein sterbender Zentaurenkrieger hatte sie angesehen: drängend, bittend, aber vor allem …
Sirja schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an diese Begegnung zu vertreiben. Vergeblich. Mit aller Macht kam sie in ihr Bewusstsein zurück – und mit ihr die Fragen, die sie seitdem quälten und die sie zu vergessen versuchte. Schwindel ergriff sie, ihre Finger tasteten nach der steinernen Brüstung der Treppe auf der Suche nach Halt.
Der gefangene Zentaur beobachtete sie noch immer, und es gelang ihr nicht, sich seinem Blick zu entziehen. Tiefer und tiefer versank sie in seinen Augen aus dunklem Grün …